„Ich verspreche Ihnen, dass jeder von Ihnen fliegen wird“, sagte der ESA-Generaldirektor Jean-Jacques Dordain in einer Festansprache im European Astronaut Center (EAC) am DLR-Standort in Köln-Porz. Am 22. November 2010 wurden hier dem Geophysiker und Vulkanologen Alexander Gerst sowie fünf weiteren europäischen Kollegen ihre Ernennungsurkunden zu ESA-Astronauten überreicht. Die ernannten Astronauten hatten die Grundausbildung bestanden und hatten sich damit letztlich gegen insgesamt 8.400 Bewerber durchgesetzt. Dordain weiter: „Unsere Astronauten sind die Botschafter der Menschheit im Weltraum.“ Gerst ist aber nicht bloß im Weltraum ein Botschafter, denn im Zeitalter von Social Media lässt er online schon längst alle an seinen mehrjährigen Vorbereitungen auf drei Kontinenten teilhaben. Alexander Gerst twittert (zu 20.000 Followern), postet bei Facebook und Flickr, bloggt im eigenen Blue-Dot-Missionsblog oder ist in zahlreichen Videos bei Youtube zu sehen, denn der 38-jährige Astronaut aus einer Kleinstadt in Baden-Württemberg „hat noch eine andere, größere Mission: Er soll den 165 Millionen Euro, die Deutschland jährlich für die bemannte Raumfahrt ausgibt, ein Gesicht geben, soll die Menschen überzeugen, dass das Geld gut angelegt ist.“ Besonders in den letzten Wochen konnte man sehen, wie die mediale Aufmerksamkeit um seine Person, seine letzten Vorbereitungen, seine Blue Dot genannte Mission (DLR-Seite, ESA-Seite, Twitter-Hashtag #BlueDot) und selbst um das 100-Milliarden-Dollar-Labor in der Erdumlaufbahn immer weiter zunahm: Neben den üblichen Interviews war von einer einstündigen Pressekonferenz im März in Köln bzw. einem Pressetermin im April in Berlin bis zur einer Weltraum-Ausgabe der „Sendung mit der Maus“ für die Kleinen am letzten Sonntag alles dabei. Eine kleine Plüschmaus wird tatsächlich morgen Abend ebenfalls für sechs Monate zur Raumstation ISS aufbrechen, und man kann sogar Fragen ins All schicken. Gestern stand für Gerst z.b. ein kurzes Skype-Gespräch mit Bundespräsident Joachim Gauck, der mit zahlreichen Diplomaten das ESA-Satellitenkontrollzentrum ESOC in Darmstadt besuchte, auf dem Plan.

Links: Alexander Gerst (GCTC), rechts: Logo zu seiner Mission “Blue Dot” (ESA)
Jetzt sind es noch genau 35 Stunden bis zum Start der Sojus-Rakete und dem Beginn seiner sechsmonatigen Mission an Bord der ISS. In Baikonur wurde gestern der rund 30 Tonnen schwere und 45 Meter lange Koloss aus der Montagehalle zur Startrampe gefahren und aufgerichtet. Journalisten und Blogger sind für ihre Liveberichte direkt vom Startplatz längst vor Ort (es wird via #AlexTweetup und #SPONbaikonur getwittert), anwesend sind auch Sigmund Jähn und Ulf Merbold, die ersten beiden deutschen Raumfahrer, sowie der Vater des Astronauten Alexander Gerst. Um 21:56 MESZ am Mittwoch ist es dann endlich soweit: Mit 26 Millionen PS und 280 Tonnen Treibstoff wird der Geophysiker mit seinen beiden Kollegen, dem Amerikaner Reid Wiseman und dem Russen Maxim Surajew, in den Nachthimmel donnern. Und während in Kasachstan der Feuerstuhl abhebt und auf dem Weg in den Weltraum ist, wird überall in Deutschland der Start des 11. deutschen Astronauten gefeiert werden. Und das nicht nur alleine am Bildschirm via Livestream, sondern in bester Fußball-WM-Manier beim gemeinsamen Rudelgucken. Die drei offiziellen Veranstaltungen finden in Frankfurt, Oberpfaffenhofen und in Köln statt. Alle Informationen zum Public-Viewing in der Domstadt inkl. einem Talk- und Showprogramm finden sich hier und hier. Der Leiter des DLR in Köln-Porz erklärt: „Hier ist unser Hauptsitz, hier bildet die ESA die europäischen Astronauten aus, und unser Mann im All wohnt in der Domstadt. Was liegt also näher, als dieses Ereignis gemeinsam zu feiern?“ Weitere Public-Viewing-Aktionen soll es noch in Berlin, Bremen, Cottbus, Stuttgart und sogar im vogtländischen Heimatort von Sigmund Jähn geben. Ebenso wird man in der Stadthalle von Künzelsau, Gersts baden-württembergische Heimat, den Start im russischen Baikonur gespannt verfolgen. Vom Bürgermeister heißt es: „Wir in Künzelsau sind stolz auf unseren berühmten Botschafter und gratulieren Alexander Gerst zu seinen herausragenden Leistungen.“ Auch vom singenden Astronauten Chris „Major Tom“ Hadfield gibt’s eine Grußbotschaft und Thomas D wünscht dem deutschen Astronauten Rückenwind für den Start. Außerdem: Eine vollständige Liste mit Sondersendungen im TV (u.a. im Bayerischen Rundfunk, ZDF, N24, N-TV, Phoenix) und mit Webcast-Angeboten (z.b. dlr.de/next (zeigt die NASA-TV-Übertragung), dlr.de) ist hier zu finden.
Die Sojus-Kapsel mit der Kennung TMA-13M und dem Rufzeichen „Kepheus“ soll bereits nach nur vier Erdumkreisungen, also nach etwa sechs Stunden Flugzeit, an der Raumstation ankommen. Zuvor soll übrigens die Sojus bei zwei ISS-Überflügen (um 1:03 MESZ und 02:36 MESZ; für Standort Bonn) über Deutschland sichtbar sein. Das Andocken des Raumschiffs soll um 3:48 MESZ stattfinden, dann ist die ISS für ein halbes Jahr das Zuhause für den Deutschen. Damit erfüllt sich zugleich ein Kindheitstraum. Denn obwohl Gerst letztlich Geowissenschaftler wurde, hatte er doch immer die alte Faszination für den Weltraum im Hinterkopf. Zum wöchentlichen Pflichtprogramm des neugierigen Knripses gehörten die Abenteuer von Captain Future, er war ebenso ein Fan der „Space Night“ im Bayerischen Fernsehen, las „Die Astronauten“ von Stanislaw Lem und stellte am Tag „25 Fragen über Blitze, Stürme und das Weltall“. „Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat mich das schon immer fasziniert, Astronaut zu werden“, erzählt der heutige ESA-Astronaut. „Ich war schon immer neugierig und hatte das Glück, dass ich Eltern und Großeltern hatte, die nie versucht haben, mir diese Neugier auszutreiben.“ Schon im Alter von sechs Jahren sendete er seine Stimme zum Mond – und hörte sie zwei Sekunden später verzerrt im Lautsprecher. Mit seinem Opa hatte er den Mond angefunkt und lauschte seiner eigenen Stimme, die von der Mondoberfläche reflektiert wurde. „Ich war fasziniert. Ein kleiner Teil von mir war auf dem Mond gewesen. Unglaublich.“ Und selbst der damalige Betreuer bei Gersts Diplomarbeit über einen neuseeländischen Vulkan erzählt heute: „Was ich aber sehen konnte war, dass er in seiner Arbeit immer ein Stück weiter wollte, als es die eigentliche Aufgabenstellung erfordert hätte. So, als mache ihn das, was jenseits des unmittelbaren Horizonts liegt, besonders neugierig. Als ich das Gutachten zu seiner exzellenten Arbeit schrieb, dachte ich: So einer wäre im 18. oder 19. Jahrhundert ein Entdeckungsreisender geworden und hätte die unbekannten Weiten der Erde erforscht. In moderner Form macht er das ja heute auch.“
Aus dem wissbegierigen Jungen von damals, der mit 21 Jahren nur mit einem Rucksack auf dem Rücken schon die ganze Welt bereiste, wurde ein Vulkanforscher, der im Mai 2008 von einer Ausschreibung für neue ESA-Astronauten las und sich bewarb. Die Zusage erhielt Gerst, als er seine Doktorarbeit abschloss; und heute bezeichnet er nach wie vor das dreimonatige Russischen lernen in der Grundausbildung als die größte Herausfordung der gesamten Ausbildung. Seit seiner Bewerbung sind nun ganze sechs Jahre vergangen und die Erfüllung eines Kindheitstraumes bzw. der Start in sein größtes Abenteuer, die ISS-Expedition 40/41, steht nun unmittelbar bevor. 1,5 Kilogramm an persönlichen Dingen kann der deutsche Astronaut zur sechsmonatigen Blue-Dot-Mission mitnehmen. „Vor allem Fotos von der Familie und Freunden. So ein bisschen als Anker, dass ich weiß, wo ich herkomme.“ Lems „Die Astronauten“ und Carl Sagans vor 20 Jahren erschienenes Buch „Pale Blue Dot“ hat er als Reiselektüre dabei. Außerdem befinden sich unter den Souvenirs u.a. eine Flagge aus Künzelsau, ein kleines Mauerstück des Kölner Doms und eine Kölner Stadtfahne sowie eine Flagge des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), an dem Gerst Geophysik studierte.
Ein halbes Jahr lang wird der deutsche Astronaut auf die eine oder andere Weise an 160 Experimenten auf der ISS beteiligt sein. Einzelheiten zu seinen hauptsächlichen Arbeiten sind ausführlich auf 25 Seiten in der offiziellen Broschüre zur Mission nachzulesen. Dabei geht es aber nicht nur um Materialphysik, Biologie oder Humanphysiologie, denn Gerst wird z.b. auch das letzte ESA-Versorgungsraumschiff ATV-5 in Empfang nehmen und natürlich gibt es selbst 400 Kilometer über der Erde ebenso die ganz normalen All-Tags-Tätigkeiten. Wie das Logo der Blue-Dot-Mission mit der blauen Erde und den schützenden Händen bzw. das dazugehörige Motto „Shaping The Future“ außerdem schon erkennen lassen, will man mit der Langzeitmission zugleich die Aufmerksamkeit der Menschen auf den Schutz unseres zerbrechlichen Heimatplaneten lenken. Auf dem Programm steht auch ein Bildungsprogramm, was etwa ein Zehntel der Zeit in Anspruch nehmen soll. Beispiele für die geplanten Experimente und Vorhaben für die Bildung und Nachwuchsförderung sind „Beschützer der Erde“, „Aktion 42“ oder die Flying-Classroom-Versuche, zudem soll es für Schüler auch direkte Funkkontakte mit dem deutschen ISS-Botschafter geben. Und sicherlich wird sich der Geowissenschaftler auch weiterhin via Twitter und Facebook melden und uns Bilder von der einmaligen Aussicht auf unsere kleine blaue Erde zeigen.
„Siehst du den Horizont? Direkt über’m Boden fängt der Himmel an. Und wär ich dort, dann würd ich wetten, dass ich ihn erreichen kann. Doch hier hat es den Anschein – Bin ich dafür zu klein“ (Prolog zum Song „Rückenwind“ von Thomas D)
27.05.2014
[Nachtrag, 28.05.2014] #GoAlex ist das offizielle Fan-Hashtag bei Twitter zum heutigen Start, und hier gibt’s einen Live-Blog.
4 Antworten to “In 35 Stunden startet Alexander Gerst mit Rückenwind zur ISS”